Recensione a cura di Christian Thomas Leitmeir:: Philomusica on-line :: Rivista di musicologia dell'Università di Pavia

 

Contributo di Recensione a cura di Christian Thomas Leitmeir

 

IOHANNES TINCTORIS, Diffinitorium musice. Un dizionario di musica per Beatrice d’Aragona. Studio, edizione critica e traduzione italiana, a cura di Cecilia Panti, Firenze, SISMEL - Edizioni del Galluzzo, 2004 (La tradizione musicale – Studi e testi, 8).

 

 

Als mutmaßlich erstes Wörterbuch musikalischer Fachbegriffe bildet das Terminorum musicæ diffinitorium von Johannes Tinctoris eine Schlüsselquelle für den Lexikographen und erstes Nachschlagewerk für Musikhistoriker, der sich über die Bedeutung bestimmter Bezeichnungen im musiktheoretischen Diskurs des Spätmittelalters informieren möchte. Insofern verwundert es nicht, daß dieses Lexikon, das Tinctoris zwischen 1472 und 1474 für seine adlige Schülerin Beatrice von Aragon verfaßte, über eine stete Präsenz in der Musikhistorie verfügt. Gewissermaßen begleitet es sogar deren Geschick als wissenschaftliche Disziplin seit ihren Anfängen im späten 18. Jahrhundert. 1792 legte Forkel in seiner Allgemeinen Litteratur der Musik eine erste Neuausgabe des um 1495 von Gerardo di Lisa besorgten Inkunabeldrucks vor, die in anderen europäischen Ländern nachgedruckt wurde. Um nur die frühesten Stationen zu nennen: Zunächst erschien das Diffinitorium in Pietro Lichtenthals Dizionario e bibliografia della musica (Mailand 1826), bald darauf wurde es als Anhang in Hamilton’s Celebrated Dictionary; Comprising an Explanation of 3500 Italian, French, German, English and Other Musical Terms (Erstausgabe London 1849) inkorporiert. Auf einer anderen Textgrundlage, der leicht modifizierten und erweiterten Fassung in der Handschrift Br 1 (Brüssel, Bibliothéque Royale Albert Premier, II 4148), basierte die Einzelausgabe Edmond de Coussemakers von 1875, die ein Jahr darauf im vierten Band der wegweisenden Sammlung Scriptorum de musica Medii ævi abermals erschien. Um dem wachsenden Interesse eines breiten Publikums an Musikinteressierten gerecht zu werden, das nicht notwendigerweise über hinreichende Kenntnisse im Mittellateinischen verfügte, kamen ferner eine Reihe von volkssprachigen Übersetzungen auf den Markt: Den Anfang machte Bellermanns deutsche Fassung aus dem Jahre 1863 (nachgedruckt 1983 mit Faksimile der Inkunabel und einem Nachwort von Peter Gülke), inzwischen wurde das Lexikon mehrfach ins Englische übertragen (1940, übersetzt von L. Balogh, und 1963/1978, übersetzt von Carl Parrish), auch Ausgaben auf Französisch (1591, übersetzt von Armand Machabey), Italienisch (1965, übersetzt von Lionello Cammarota) und sogar Japanisch (1978, übersetzt von einem Autorenteam) liegen vor.

Nur eine kritische Edition des Lexikon, das immerhin in zwei Bearbeitungsstufen vorliegt, fehlte bislang. Selbst die von Albert Seay besorgte Gesamtausgabe der theoretischen Schriften im Corpus Scriptorum de Musica berücksichtigt ausgerechnet jenes Werk das Autors nicht, das unter Zeitgenossen und späteren Generationen die größte Bekanntheit und Verbreitung besaß. Diese Forschungslücke wird mit Cecilia Pantis vorbildlicher Edition des Diffinitorium endlich geschlossen, die wie die weiteren keine philologischen Wünsche offen läßt. Als Leittext wählte Panti nach sorgfältiger Untersuchung der Überlieferungszeugen die Handschrift Br 1. Wie sie schlüssig nachweist, geht diese auf eine spätere Redaktion des Autors zurück. Der den meisten Ausgaben zugrundegelegte und mehrfach faksimilierte Inkunabeldruck von 1492 repräsentiert hingegen, obgleich knapp zwei Jahrzehnte später veröffentlicht, eine ältere Schicht, die Tinctoris an einigen Punkten signifikanten Änderungen unterzog. Neben zusätzlichen Einträgen »carmen«, »symphonia« und »intervallum«, die weder eine bedeutende terminologische Erweiterung darstellen noch erhellende Definitionen bieten (zu ersehen etwa am folgenden Beispiel: »Carmen est quicquid cantari potest«), läßt sich der Umarbeitungsprozeß an den Definitionen zur Teilung des Ganztons festmachen. Die ältere Schicht, die in der handschriftlichen Quelle Bologna, Civico Museo Bibliografico Musicale, B/2 A sowie der Druckausgabe dokumentiert ist, folgt dem Lucidarium des Marchettus von Padua: Entsprechend läßt sich der Ganzton in fünf Dieseis teilen, von denen zwei einen kleinen Halbton (semitonium minus) und drei einen großen Halbton (semitonium maius) bilden. Die Quelle Br 1, die Panti nicht, wie seit Woodley allgemein angenommen, als Autograph, sondern als eine Kopie desselben bestimmen kann, übernimmt für die Einträge zu diesem Begriffsfeld das schlüssigere und traditionelle Paradigma der boethianischen Musiktheorie, dem Tinctoris auch in allen folgenden Schriften treu bleibt. Für den Terminus »Diesis« zitiert die zweite Fassung des Diffinitorium zwar noch die Auffassung Marchettos, aber nur als eine neben anderen, verzeichnet also in lexikalischer Manier sämtliche Verwendungsarten des Begriffs. Die weiteren Lemmata, die mit der Teilung des Ganztons befaßt sind, bleiben ausschließlich Boethius verpflichtet.

In der Aufschlüsselung des konkreten Umarbeitungsprozesses liegt denn auch das Hauptverdienst von Pantis Neuausgabe des Diffinitorium. Wiewohl der Leser dankbar sein wird, erstmals eine kritische Edition des frühen Schlüsselwerks von Tinctoris konsultieren zu können, die zudem höchsten philologischen Ansprüchen genügt, bleibt ihre Relevanz auf diesen Gesichtspunkt und seine stemmatisch-kodikologische Deutung verkürzt. Insofern die Textrevision abgesehen von orthographischen Schreibvarianten und den besagten signifikanten Eingriffen nur marginal von der Erstfassung abweicht, die im Inkunabeldruck und folglich zahlreichen Ausgaben und Faksimilierungen greifbar ist, bietet die immerhin über 160 Seiten umfassende Publikation relativ wenig Neues.

Panti mag angesichts dieser Tatsache einen gewissen Legitimationsdrang für die eigene Unternehmung gespürt haben. Bedauerlicherweise führte dies dazu, die Edition zu einer umfangreichen Monographie auszuweiten, statt den (aus Sicht des Rezensenten einzig sinnvollen) Weg der Reduktion auf das Wesentliche zu beschreiten. Die zentralen Ergebnisse ihrer Studien hätten in der Form eines Aufsatzes zu Datierung und Genese der beiden Fassungen des Diffinitorium mit beigegebener kritischer Edition (die in der vorliegenden Publikation auch nicht mehr als 28 Seiten beansprucht) das ihr entsprechende Format gefunden. Gemessen am wissenschaftlichen Innovationsgehalt erscheint die Dimension des Bandes in unangemessener Weise aufgebläht. Die italienische Übersetzung selbst ist nur von beschränktem Wert, da die lateinischen Definitionen ob ihrer schlichten und pointierten sprachlichen Gestalt für den Muttersprachler ohnehin leicht verständlich sind (z.B. »Intervallum est soni gravis et acuti distantia« – »Intervallo è la distanza fra un suono grave e uno acuto«) und der Text durch die (wenngleich nicht vollauf befriedigende) Übertragung Lionello Cammarotas von 1965 ohnehin auch breiten Kreisen, die über keinerlei Lateinkenntnisse verfügen, erschlossen wurde. Auch die ausgedehnte Einleitung kann – abgesehen von den genannten eigenständigen Ausführungen – kaum mit originellen Erkenntnissen aufwarten. Bezüglich der Biographie des Autors (S. XI-XXV), zum konkreten Entstehungskontext des Diffinitorium und seiner Textgattung (S. XXVI-XXXII) und zu den einzelnen Quellen (S. XL-LIII) beschränkt sich Panti auf eine Synopse des aktuellen Forschungsstandes, die in solcher Ausführlichkeit nicht verzichtbar gewesen wäre. Ähnliches gilt von umfangreichen Vorbemerkungen zur italienischen Übersetzung (S. LXV-LXXVII): Da sich das Diffinitorium selbst schon als Nachschlagewerk für musikalische Fachbegriffe versteht, ist ein Schnellkurs in mittelalterliche Musiktheorie und -notation weder nötig noch hilfreich. Die Analyse des Umarbeitungsprozesses – das eigentliche Novum des Bandes – neigt zu Redundanzen, da die gleichen Ergebnisse und Deutungen auf mehrere Kapitel verteilt besprochen werden: zwar unter verschiedenen Blickwinkeln, aber doch mit erheblichen Dopplungen in der Darstellung (S. XXXII-XXXIX sowie S. LIV-LIX zur Teilung des Ganztons, ferner S. LX-LXIV im Hinblick auf die daraus folgenden stemmatischen Konsequenzen). Andererseits erscheinen gerade im bibliographisch-kodikologischen Kapitel manche Angaben lückenhaft, ohne daß ein tieferer Sinn dafür erkennbar wäre. Während Panti etwa die erhaltenen Exemplare des Inkunabeldrucks sorgfältig verzeichnet, fehlen wesentliche Details zum Wiener Band, die nur durch die Signatur charakterisiert ist, sowie den von der Herausgeberin nicht eingesehenen Codices aus Washington und Gotha, zu denen Panti selbst die Signatur schuldig bleibt – ein gravierender Mangel besonders angesichts der Tatsache, daß die Quelle aus Gotha bereits mehrfach faksimiliert wurde. Überdies fehlt im anschließenden Verzeichnis der Vorgänger-Editionen unter anderem der Hinweis darauf, daß der 1983 von Peter Gülke bei Bärenreiter herausgegebene und eingeleitete Nachdruck der deutschen Übersetzung Bellermanns auch ein Faksimile der Inkunabel beinhaltet.

Erstaunlicherweise versäumt Panti die Gelegenheit, an jenen Punkten tiefer nachzubohren, wo tatsächlich wissenschaftliches Neuland hätte betreten werden können. Wenn sie die Textgattung des allgemein als erstes ausgereiftes Musiklexikon angesehenen Diffinitorium zwischen Enzyklopädie und Lexikon bestimmt, verweist sie im wesentlichen auf die allgemein gehaltenen geistes- und bildungsgeschichtlichen Studien von Olga Weijers sowie Hans-Heinrich Eggebrechts Eintrag »Lexikon« in der ersten Auflage des MGG (1960), ohne die von der Forschung aufgezeigten Wege selbst kritisch zu prüfen oder weiterzuverfolgen. Auch nach konkreten Vorläufern oder Vorstufen des Diffinitorium, wie sie etwa in den mittelalterlichen vocabularii zu finden wären (cf. diesbezüglich das Franz Körndles Referat »Vocabularien des 14. und 15. Jahrhunderts als Quellen zur Musikgeschichte« auf dem International Symposium on Late Medieval and Early Renaissance Music in Novacella, Juli 2006). Gerade glossographische Wörterbücher aus der ebenso breiten wie langlebigen Überlieferungstradition des Vocabularius Ex quo (hrsg. von Klaus Grubmüller u.a. in sechs Bänden, Tübingen 1988-2001), die statt oder zusätzlich zu einer volkssprachigen Erklärungen auch lateinische Definitionen bieten, weisen in manchen Punkten sogar konkrete Parallelen zu den Einträgen Tinctoris’ auf (z.B. »diaphonia« und »sincopa«). Auch teilen sie mit dem Diffinitorium eine propädeutische, praktische Zielsetzung, wenngleich bei der Auswahl der Lemmata in ihnen tendenziell instrumentenkundliche Termini überwiegen, die Tinctoris grundsätzlich ausklammert; der Vocabularius Optimus des 14. Jahrhunderts (hrsg. von Wilhelm Wackernagel, Basel 1847) widmet ihnen unter dem Titel »De ludicribus sonoris« ein eigenes Kapitel, während er andere musikalische Bezeichnungen über mehrere Rubriken hin verstreut abhandelt.

Haarspalterisch, wenn nicht gar gezwungen mutet der Versuch an, der von ihr edierten Schrift des Johannes Tinctoris einen neuen Titel zu verpassen: Die eingebürgerte Formulierung Terminorum musicæ diffinitorium, die auf dem Frontispiz des Inkunabeldrucks und in der Überschrift zum ersten Kapitel (»Diffinitiones terminorum musicalium et primo per A incipientium. Capitulum I«) verwendet ist, ersetzt Panti durch die in der Widmung auftretende Bezeichnung Diffinitorium musice. Ein echter Erkenntnisgewinn ist mit dieser Lesart gewiss nicht erzielt, sie stiftet höchstens terminologische Verwirrung. In diesem kleinen Detail findet die entscheidende Schwäche des Bandes einen sinnfälligen Ausdruck: Panti sah sich gewissermaßen in letzter Konsequenz genötigt, einen neuen Titel einzuführen, um die unverhältnismäßige Streckung zu einer eigenständigen Monographie des Bandes zu rechtfertigen. Damit war sie schlecht beraten. Durch eine kompakte Darstellung der entscheidenden Forschungsergebnisse hätte die verdienstvolle und vorbildliche Edition ohne Eintrübungen in dem Licht glänzen können, das sie verdient hätte.

 

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[Bio] Christian Thomas Leitmeir ist derzeit Research Associate am Institute of Musical Research (School of Advanced Studies) der University of London. Forschungsschwerpunkte sind neben mittelalterlicher Musiktheorie und geistlicher Musik der Renaissance das Werk von W.A. Mozart, Richard Strauss sowie deren Zeitgenossen. E-mail c.leitmeir@bangor.ac.uk

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